Ein anhänglicher Merlin (Tinnunculus Heft 18, 2/2003)
von Heinz Grünhagen, DFO NRW
Der Merlin (Falco columbarius) ist als der wohl am leichtesten zähmbare und liebenswürdigste aller Greifvögel bekannt (siehe z.B. VALLES 155611993, FREEMAN & SALVIN 185911972, BOYER & PLANIOL I948, BRÜLL I962, BEEBE & WEBSTER 1989, CEBALLOS ARANDA 2002),dessen Zutraulichkeit und Anhänglichkeit ein Erlebnis illustrieren mag, das mir selbst nach Jahrennoch lebhaft in Erinnerung ist, wobei mir indessen manche Details entfallen sind.
Danach beschränkte ich mich darauf, ihn in freier Folge zu fliegen, d.h. mich von ihm auf Spaziergängen durch die Feldflur, gewöhnlich auf dem Höhenrücken zwischen den Dörfern Pfaffenlöh und Grünscheid 2km nordnordwestlich meines 8km östlich Leverkusen-Opladen gelegenen Heimatstädtchens Burscheid, begleiten zu lassen, wobei ihm Telegraphenmasten und einzeln stehende Bäume als Warten dienten. Wenn er mir zu weit zurückzubleiben schien, lockte ich ihn mit dem Federspiel, auf dem ich ihn dann ein paar Happen von dem darauf festgebundenen gerupften Haussperling (Passer domesticus) kröpfen ließ. In solchen Fällen zeigte ich ihm manchmal, um nicht vorzeitig seinen Appetit zu vermindern, das Feder- spiel nur kurz und steckte es wieder in die Tasche, sobald er zu einem Flug gestartet war, der ihn aufs neue in meine Nähe brachte.
Im Oktober 1962 erwarb ich von belgischen Vogelfängern, deren Bekanntschaft Dr. Otfried Stehle, ein befreundeter Falkner aus Leverkusen-Opladen, einer Kleinstadt l5 km nördlich Köln, vermittelt hatte, zwei erst kurz zuvor gefangene immature Merline, einen Terzel für mich selbst und ein Weibchen für Dr. Stehle. Den Terzel, der die Tage, soweit es das Wetter zuließ, auf einem kleinen Block im Garten des elterlichen Hauses und die Nächte auf einer Reck in meinem Zimmer verbrachte, flog ich nach 3 Wochen zum ersten Male frei. Meine Absicht, mit ihm Kleinvögel zu beizen, gab ich jedoch schnell auf nachdem ihn sein erster Jagdflug hinter einem feldernden Finkenschwarm her in wenigen Minuten so weit von mir entfernt hatte, dass ich ihn schon verloren glaubte und heilfroh war, als er auf das Schwenken des Federspiels hin die Jagd abbrach und zu mir zurückkehrte.
Am Nachmittag des 23. Dezember 1962, dem meiner Erinnerung nach ersten richtig kalten Tag des dann folgenden sehr kalten Winters, ergab sich wieder einmal eine solche Situation. Der Merlin hatte etwa 500m nordöstlich des 2km nordwestlich Burscheid liegenden Dorfes Dohm im Wipfel einer in einem Seitentälchen des Vierschelsbachtales stehenden Eiche aufgehakt und machte keinerlei Anstalten, mir, der sich zwischen ihm und Dohm befand, zu folgen. Auf das Zeigen des Federspiels hin startete er zwar nach kurzem Zögern suchte dann aber, nachdem ich das Federspiel wie- der hatte verschwinden lassen, keine Warte in meiner Nähe auf. Vielmehr flog er dicht über dem Boden an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und verschwand hinter dem nahen Hügelkamm in Richtung auf Dohm. Ich zog in größter Hast das Federspiel und rannte, es schwenkend, so schnell ich konnte, hinter ihm her. Als ich den Hügelkamm erreichte, musste ich jedoch feststellen, dass vonmeinem Merlin nichts mehr zu sehen war und ihn auch mein verzweifeltes Schwenken des Federspiels nicht zurückbrachte.
Ungefähr 3 Wochen später hörte ich, dass ein kleiner Falke von einer Familie, deren Namen ich vergessen habe, in dem Dorfe Neuenhaus 2km westlich Burscheid, das lediglich 1,5km von Dohm entfernt liegt, seit einigen Wochen gepflegt werde. Ich nahm natürlich unverzüglich Kontakt zu der Familie auf und begab mich am 10. 01. 1963 zu ihr in der dann auch nicht enttäuschten Erwartung, dass es sich bei dem Fälkchen um meinen Merlin handeln würde und ich ihn auslösen könne. Nach meinem Eintreffen wurde ich von der 15jährigen Tochter sogleich ins Wohnzimmer geführt, wo der Vogel frei auf einem Schrank saß. Die unglaublich tierfreundliche Familie hatte das gesamte Zimmer des Schmelzes halber mit Zeitungen ausgelegt, so dass sie es selbst kaum nutzen konnte. Zum Übernachten pflegte der Merlin, wie mir die Tochter erzählte, am liebsten den Kronleuchter aufzusuchen; geatzt worden war er mit Gehacktem. Wie aber war der Vogel in die 0bhut dieser Familie gelangt? Dazu berichtete mir die Tochter, die sich offenbar am meisten mit ihm beschäftigt hatte, dass sie am späteren Nachmittag des 23. Dezember, als es schon zu dämmern begann, wie üblich hinausgegangen sei, um die Hühner in den Stall zu lassen. Als sie deren Auslauf betreten habe, sei plötzlich der kleine Falke unter lautem Geklingel seiner Glöckchen aus einem nahen Birnbaum heruntergekommen und habe sich unmittelbar vor ihr auf einen Pfahl der Umzäunung des Auslaufes gesetzt. Sie sei nach kurzem Zögern zu ihm gegangen, habe ihn mit beiden Händen gepackt und ins Wohnzimmer gebracht. Dort habe er, wie ich ja sähe, seitdem gelebt.
Wenn wir uns nun der reizvollen Aufgabe zu- wenden wollen, das Verhalten des Merlins zu verstehen, so ist zunächst festzuhalten, dass das Dorf Neuenhaus recht genau in der Richtung liegt, die der Vogel eingeschlagen hatte, als er mir enttäuscht und verärgert davonflog. Offenbar hat er seine ursprüngliche Flugrichtung über Dohm hinaus noch eine Weile beibehalten und das zwischen den beiden Dörfern liegende Mu(h)rbachtal überquert, um dann bei Neuenhaus erst einmal Halt zu machen. Binnen kurzem wird ihm jedoch klar geworden sein, dass seine Aussichten, an dem rasch zu Ende gehenden Wintertag noch Beute zu machen, ausgesprochen gering waren und ihm eine bitterkalte Nacht mit leerem Magen bevorstand, die zu überleben er keineswegs sicher sein konnte. So dürfte er alsbald sein Verhalten bereut haben und richtig glücklich gewesen sein, als trotz des wenig einladenden Wetters ganz überraschend eins dieser Mensch genannten Wesen, mit denen er inzwischen die Aussicht auf Nahrung verband, auftauchte. Unter diesem Aspekt hat er es dann sogar in Kauf genommen, von dem in diesem Falle allerdings auch sehr reizenden Wesen wie eine Beute in die »Fänge« genommen zu werden.
Obwohl man zur Erklärung seines Verhaltens also mit prosaischen Gründen völlig auskommt, kann ich nicht verhehlen, dass mich das darin zum Ausdruck kommende Vertrauen dieses Merlin-Wildfanges zu Menschen in ganz besonderer Weise berührt hat.
Heinz Grünhagen, LV Nordrhein-Westfalen
Literatur:
BEEBE, F. L., & H. M.WEBSTER (1989): North American Falconry and Hunting Hawks,6. Printing, Denver/Colorado: North American Falconry and Hunting Hawks
BOYER,A., & M. PLANIOL (1948):
Traite de fauconnerie et autourserie, Paris: Payot.
BRÜLL, H. (1962): Die Beizjagd, Hamburg, Berlin: Verlag Paul Parey.
CEBALLOS ARANDA, I. (2002): Soltando pihuelas. Conocimiento y practica de la cetreria. Madrid: Cairel Ediciones.
FREEMAN, G. E., & F. H. SALVTN (18s91t972): Falconry. Its Claims, History, and Practice, London: Longman, Green, Longman, and Roberts / Chicheley: Paul P. B. Minet.
VALLES, J. (1556/1993): Libro de acetreria. Colecciön Alcotän. Madrid: Cairel Ediciones.