Von einem, der auszog, ein Karnickel zu beizen

 

1994 durfte ich unseren Landesverband zum ersten Mal auf einer Ordenstagung vertreten. Das wollte gut vorbereitet sein und so zog es mich in diesem Jahr besonders häufig in den Berliner Tiergarten.

 

Vor allem an schönen Herbsttagen, wenn die Sonne noch einmal ihr Letztes gab, herrschte dort nachmittags ein munteres und buntes Treiben von Radfahrern, Joggern, Touristen, Kindern, Müttern und Vätern mit und ohne Kinderwagen und Hunden aller Größen und Rassen, die sich ungeniert ohne Leine tummelten. Es wurde gegrillt, gefeiert und gespielt. Die Kaninchen zogen es vor, unter Tage zu bleiben, sodass ich mich mehr der Beobachtung der menschlichen Gesellschaft zuwandte. Eine nicht mehr ganz junge Frau fiel mir besonders auf, in der ich eine Opernsängerin vermutete, der die Nachbarschaft zu Hause per einstweiliger Verfügung das Üben verboten hatte. Regelmäßig durchstreifte sie den Park, machte unvermutet schrille Stimmübungen oder trällerte Arien. Eine Hand war immer in der Manteltasche vergraben, wo sie vermutlich ein Tränengasspray umklammerte. Den höflichen Gruß, den ich ihr entbot, nachdem ich sie das dritte Mal getroffen hatte, ignorierte sie – ganz Diva - hochmütig.

Wahrscheinlich hielt sie ihn für plumpe Anmache. Trotzdem wäre ich ihr ritterlich beigesprungen, als ein feister, etwas schmuddelig aussehender Mann in einem grauen Jogginganzug vor ihr herumsprang. „Pfui, Sie Ferkel“, hörte ich sie empört schimpfen, aber ehe ich die Sachlage durchschaut hatte, war der Exhibitionist flink wie ein vom Habicht angejagtes Karnickel in den Rhododendren verschwunden.

 

Der Verfasser mit seinem Habicht

 

In einer abgelegenen Ecke lungerten junge Männer herum, die meist paarweise in den Büschen zusammenstanden. Im Gegensatz zu den andern Spaziergängern sahen sie über mich und den Habicht hinweg, offensichtlich hatten sie genug mit sich selbst zu tun. Manchmal verirrte sich Nils, mein Münsterländer, zu ihnen, Kaninchen hat er allerdings dort nie rege machen können.

Es wird niemanden verwundern, wenn ich es angesichts dieser Umstände vorzog, möglichst früh am Morgen beizen zu gehen.

Der achte Oktober war ein Samstag und begann mit einem herrlichen Herbstmorgen wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel über der Siegessäule war blassblau und die Luft war frisch, zu Frost hatte es diese Nacht aber nicht ganz gereicht. Zwei Kolkraben strichen bellend über die Wipfel auf das Schloss Bellevue zu. Auf einer Pappel an der Straßenseite hockte ein großer Flug Ringeltauben, die sich schlank machten, die Hälse reckten und auf den Wildhabicht warteten. Die Idylle wurde nur – für die frühe Tageszeit ungewöhnlich- durch das laute Wummern von Bässen gestört, die vom Zelt des Tempodrom herdröhnten.

 

Nach einem erfolglosen Jagdflug zwischen dichten Eiben an der Kante zur Straße des 17. Juni zogen wir weiter unseres Wegs auf ein kleines Brückchen zu. Links auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens zieht sich eine vorgartengroße Deckung entlang, die zur Hälfte aus Bambus, zur Brücke hin aus hohen Brennesseln besteht.

 

Im Näherkommen bemerkte ich rechts gegenüber einen Mann, der dicht am Stamm einer jungen Eiche lehnte. Ich scherte ich mich nicht weiter um ihn, es mochte wohl ein Jogger sein, der sich kurz verschnaufte und gleich eine dieser merkwürdigen Streckübungen machte.

 

Nils an meiner Seite umtänzelte mich schon die ganze Zeit in weiten Kreisen, den Kopf ungeduldig zu mir hochgereckt. „Such voran!“, erlöste ich ihn und er glitt in das hohe Bambusgras und wuselte darin herum. Gespannt verfolgten mein Habicht Quäke und ich die schwankenden Halme des Bambusgrases und die aufgeregt hin und herzuckende Rute des Hundes. Ab und an hörte man sein Schnaufen und Grunzen und er warf auf, dann wurde der Hals des Habichts lang, er machte sich schlank, wurde aber wieder rund und plusterte das Gefieder. Synchron dazu klopfte mein Herz mal schneller, mal langsamer. Aus den Augenwinkeln schielte ich kurz zu dem Fremden hin, den ich vorhin registriert hatte. Komm mir jetzt nicht zu nahe, du vermasselst mir sonst die Chance. Aber er dachte gar nicht daran. Regungslos schaute er uns zu. War er Jäger , was ja theoretisch sein konnte, dann überkam ihn sicher die gleiche Erregung wie mich. Nils hatte sich nun aus dem Schilf herausgearbeitet und bögelte auf dem Rasen herum. Offensichtlich verfolgte er eine frische Spur. Ich wusste, dass ca. 50 Meter weiter an der Straßenkante zum Glockenturm ein Bau lag. Da drin war das Kaninchen für uns unerreichbar. Also ließ ich den Wendepfiff ertönen und zeigte auf das Bambusdickicht. Nils hielt inne, drehte und nach kurzem Zögern schob er sich wieder in den Bambus. Als er zunächst gerade nach vorn zog, wendete er brav auf meinen Pfiff und ließ keine Ecke aus. Innerlich wuchs ich jetzt mindestens um das Doppelte und blickte mich verstohlen zu dem Fremden um. Hast du das gesehen? Damit hättest du nicht gerechnet. Na, ist das Hundearbeit? Wohlwollend nahm ich ihn aus der Ferne etwas genauer in Augenschein. Er hatte so einen dunklen Teint. Tourist aus den USA. Amerikaner und Japaner sieht man am häufigsten. Ein Japaner ist es jedenfalls nicht. Also Amerikaner.  Wohl unterwegs zum Brandenburger Tor. Da wird ihm in Old Germany doch was geboten. Damit hat er bestimmt nicht gerechnet. Dass er so ruhig steht, richtig sympathisch, der kennt sich aus und will nicht stören. Vielleicht ist es sogar ein Falkner.

 

Nils, der brave Münsterländer

 

Plötzlich sprang aus der Brennnesselflur ein Karnickel und flüchtete auf die andere Seite des Weges. Instinktiv – wie man das ja auch allenthalben liest- machte ich die Faust auf, Qäke jagte scharf an, steilte auf und stellte sich auf eine Pappel am Rande des Wassergrabens. Ich starrte gebannt hinterher, der Hund überholte mich und nun rannte ich auch los. Vielleicht hatte sich das Kaninchen ja nur gedrückt. Mitten im Lauf hielt ich aber spontan inne. Da stimmte was nicht, etwas ließ mich stutzen und instinktiv anhalten: Mein respektvoller Beobachter, er hatte sich nicht einmal nach mir umgedreht. Langsam machte ich kehrt und ging auf ihn zu. Es war ein junger Mann, ich schätzte ihn auf keine 30, modische Jeans, Windjacke, Kapuze aufgesetzt, Walk-man auf den Ohren, weiße Nike-Turnschuhe an den Füßen. Er sagte kein Wort und schaute nur stoisch in die Richtung, aus der ich hergekommen war. Im Hintergrund dröhnten immer noch die Bässe. Lauter als vorher. Langsam ließ ich meinen Blick an ihm heraufgleiten.

 

Da entdeckte ich das Kunstoffseil, das seinen Hals umschlang und mit einem ordentlichen Knoten am untersten Ast der Eiche befestigt war. Mein Blick glitt wieder nach unten: Der Mann schwebte, knappe fünf Zentimeter fehlten bis zum Boden. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Wollte mich da einer erschrecken? Ärger stieg in mir hoch. Ich fühlte mich veräppelt und war ehrlich empört. Mit gestrecktem Zeigefinger stupste ich mein Gegenüber vor die Brust. „Was machen Sie denn da?“ , wollte ich aufgebracht von ihm wissen. Der Gefragte blieb mir die Antwort schuldig, stattdessen schwankte er hin und her wie eine Strohpuppe im Wind und die Bügel der Kopfhörer rutschten ihm auf die Stirn. Was nun? Abschneiden? Ein Messer hatte ich ja dabei. Wenn alles gespielt war, fiel er womöglich absichtlich auf mich und umhalste mich. Das wäre mir sehr unangenehm gewesen. Wenn er echt war und noch lebte, brach er sich beim Herunterfallen vielleicht den Hals, so was kam häufiger vor, das hatte ich erst kürzlich in der Zeitung gelesen. Das Beste: Hilfe holen!

 

Ich ließ Habicht Habicht sein, pfiff meinem Hund, leinte ihn an und rannte in vollem Galopp Richtung Kongresshalle, die vielleicht 200 Meter weiter liegt. Auf der anderen Straßenseite begegnete mir ein Jogger, dem ich aufgeregt berichtete und den ich nach einer Telefonzelle fragte. Er lächelte mich nur verständnislos an, sagte kein Wort und lief weiter. Ich glaube, er war taubstumm. Zum Glück fand ich schnell die Pförtnerloge der Kongresshalle, wo der diensthabende Pförtner die Polizei rief. Kurz darauf standen wir vor der Eiche. Inzwischen hatten sich noch ein paar Leute eingefunden. Eine Krankenwagenbesatzung vom Arbeitersamariterbund in Uniform und eine Zivilstreife, junge, kompakte Männer, die sich Armbinden mit der Aufschrift Polizei übergestreift hatten. Alle standen ratlos, wie mir schien, im Halbkreis um den Erhängten herum. „Dem wird wahrscheinlich nicht mehr zu helfen sein“, flüsterte ich dem einen Arbeitersamariter zu, einem etwas vierschrötig wirkenden Enddreißiger, der an seiner Zigarette kaute. „ Nee,“ meinte er trocken, „der ist mausetot, der ist ja schon ganz blau im Gesicht.“ Diese nüchternen Worte brachte mich endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück und ich verabschiedete mich von meiner Idee, der Tote könnte herabspringen, „April, April“ rufen und das Ganze zum Happening erklären.

 

Da fiel mir mein Habicht wieder ein. Gott sei Dank trug er einen Sender. Das Orten war nicht schwer, nach ein paar Minuten fand ich ihn etwa 100 Meter entfernt an der Böschung des Wassergrabens auf einem Kaninchen. Der Kropf war schon halb voll. Quäke hatte die Sache in die Hand genommen und auf eigene Faust Beute gemacht.

 

Nachdem ich sie abgenommen hatte, ging ich noch einmal zu dem Toten zurück. Man hatte ihn abgeschnitten, er lag zugedeckt am Boden. Ein unscheinbarer älterer Mann, offensichtlich ein Kriminalbeamter, durchsuchte seine Habschaft. Als er mich kommen sah, deutete er auf den Habicht. „Ein schöner Vogel“, meinte er. „Sie haben den Mann gefunden?“ Ich nickte und er schrieb meine Personalien auf einen Notizblock.

 

Wer der Tote war, habe ich nie erfahren. Ein Angestellter des Gartenbauamtes berichtete mir allerdings viel später von einem jungen Mann, der sich eine Zeitlang den zweifelhaften Scherz erlaubt hatte, Spaziergänger zu erschrecken, indem er einen Erhängten vortäuschte. War es derselbe und damit sozusagen ein Unglücksfall?

 

Endlich wieder zu Hause überkam mich das Bedürfnis, einen Schnaps zu trinken. Leider war keiner im Hause.

 

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Ob wir auf der Ordensbeize in Sögel erfolgreich waren? Na klar, drei Kaninchen war für die Verhältnisse nicht schlecht. Trainiert hatten wir genug, glaube ich jedenfalls. Und an Zuschauer jeglicher Art war der Vogel ja gewöhnt.

 

Kuno Seitz, LV Berlin

 

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